Egenberger-Urteil und kirchliches Arbeitsrecht: Das Ringen zwischen Selbstbestimmung und Antidiskriminierung

Egenberger-Urteil und kirchliches Arbeitsrecht: Das Ringen zwischen Selbstbestimmung und Antidiskriminierung

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Die Fra­ge, inwie­weit kirch­li­che Arbeit­ge­ber die Mit­glied­schaft in einer Kir­che als Ein­stel­lungs­vor­aus­set­zung for­dern dür­fen, ist seit Lan­gem Gegen­stand inten­si­ver recht­li­cher und gesell­schaft­li­cher Debat­ten in Deutsch­land. Das Span­nungs­ver­hält­nis zwi­schen dem ver­fas­sungs­recht­lich garan­tier­ten Selbst­be­stim­mungs­recht der Kir­chen und dem euro­päi­schen Anti­dis­kri­mi­nie­rungs­recht kul­mi­nier­te im soge­nann­ten Egen­ber­ger-Urteil, das eine mehr­jäh­ri­ge Odys­see durch ver­schie­de­ne Gerichts­in­stan­zen hin­ter sich hat. Zuletzt hat das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt (BVerfG) mit sei­nem Beschluss vom 29. Sep­tem­ber 2025, ver­öf­fent­licht am 23. Okto­ber 2025, neue Leit­plan­ken für das kirch­li­che Arbeits­recht gesetzt und damit die bis­he­ri­ge Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts (BAG) kor­ri­giert.

Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht: Ein Grundpfeiler der Religionsfreiheit

Die deut­schen Kir­chen – allen vor­an die Evan­ge­li­sche und die Katho­li­sche Kir­che – sind nach dem öffent­li­chen Dienst der zweit­größ­te Arbeit­ge­ber in Deutsch­land und betrei­ben zahl­rei­che Ein­rich­tun­gen in den Berei­chen Sozia­les, Gesund­heit und Bil­dung, wie bei­spiels­wei­se die Dia­ko­nie und Cari­tas. Ihr Sta­tus ist im Grund­ge­setz (GG) in Arti­kel 140 in Ver­bin­dung mit Arti­kel 137 Absatz 3 der Wei­ma­rer Reichs­ver­fas­sung (WRV) ver­an­kert. Die­se Rege­lun­gen gewäh­ren den Kir­chen ein umfas­sen­des Selbst­be­stim­mungs­recht, das ihnen erlaubt, ihre Ange­le­gen­hei­ten eigen­stän­dig zu ord­nen und zu ver­wal­ten. Dies schließt aus­drück­lich auch die Frei­heit ein, eige­ne arbeits­recht­li­che Rege­lun­gen zu erlas­sen und die Arbeits­ver­hält­nis­se ihrer Mit­ar­bei­ten­den unab­hän­gig von staat­li­chen Tarif­ver­trä­gen zu gestal­ten. Die Recht­spre­chung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts betont tra­di­tio­nell, dass das kirch­li­che Arbeits­recht Aus­druck der ver­fas­sungs­recht­lich gewähr­ten Reli­gi­ons­frei­heit gemäß Arti­kel 4 GG ist.

Die Besonderheiten des kirchlichen Arbeitsrechts

Ein cha­rak­te­ris­ti­sches Merk­mal des kirch­li­chen Arbeits­rechts ist der soge­nann­te „Drit­te Weg“. Dies bedeu­tet, dass Arbeits­be­din­gun­gen nicht durch Tarif­ver­hand­lun­gen im klas­si­schen Sin­ne oder durch staat­li­che Gesetz­ge­bung fest­ge­legt wer­den, son­dern in pari­tä­tisch besetz­ten Arbeits­recht­li­chen Kom­mis­sio­nen (AK, KODA) zwi­schen Dienst­ge­ber- und Mit­ar­bei­ter­ver­tre­tun­gen gemein­sam erar­bei­tet wer­den. Die Dienst­ge­mein­schaft ist ein zen­tra­les Prin­zip, das das Ver­hält­nis von Mit­ar­bei­ten­den und Ein­rich­tung als part­ner­schaft­lich im Geis­te reli­giö­ser Wer­te beschreibt. Zudem gel­ten in kirch­li­chen Ein­rich­tun­gen weder das Betriebs­ver­fas­sungs­ge­setz (BetrVG) noch das Per­so­nal­ver­tre­tungs­ge­setz (PersVG). Statt­des­sen gibt es spe­zi­fi­sche Mit­ar­bei­ter­ver­tre­tun­gen (MAV), deren Rech­te und Pflich­ten durch eige­ne Geset­ze (z.B. MVG der EKD, MAVO der katho­li­schen Kir­che) gere­gelt sind.

Der europäische Einfluss: Gleichbehandlungsrichtlinie und Antidiskriminierungsrecht

Das kirch­li­che Selbst­be­stim­mungs­recht stößt jedoch an Gren­zen, wo es mit ande­ren grund­le­gen­den Rech­ten kol­li­diert, ins­be­son­de­re mit dem Anti­dis­kri­mi­nie­rungs­recht. Auf euro­päi­scher Ebe­ne spielt hier­bei die Gleich­be­hand­lungs­richt­li­nie 2000/78/EG eine ent­schei­den­de Rol­le. Die­se Richt­li­nie ver­bie­tet Dis­kri­mi­nie­rung auf­grund der Reli­gi­on oder Welt­an­schau­ung am Arbeits­platz. Deutsch­land hat die­se Vor­ga­ben durch das All­ge­mei­ne Gleich­be­hand­lungs­ge­setz (AGG) in natio­na­les Recht umge­setzt.

Das Egenberger-Urteil des EuGH als Weichensteller

Der Fall Egen­ber­ger begann im Jahr 2012, als Vera Egen­ber­ger, eine kon­fes­si­ons­lo­se Sozi­al­päd­ago­gin, sich auf eine Refe­ren­ten­stel­le beim Evan­ge­li­schen Werk für Dia­ko­nie und Ent­wick­lung bewarb. Die aus­ge­schrie­be­ne Stel­le, die sich mit der deut­schen Umset­zung der UN-Anti­ras­sis­mus-Kon­ven­ti­on befass­te, erfor­der­te eine Kir­chen­mit­glied­schaft, die Egen­ber­ger nicht besaß. Ihre Bewer­bung wur­de abge­lehnt, wor­auf­hin sie wegen reli­giö­ser Dis­kri­mi­nie­rung klag­te.

Nach­dem der Fall die deut­schen Arbeits­ge­rich­te durch­lau­fen hat­te, leg­te das Bun­des­ar­beits­ge­richt (BAG) die Fra­ge 2018 dem Euro­päi­schen Gerichts­hof (EuGH) zur Vor­ab­ent­schei­dung vor. Der EuGH stell­te klar, dass sich Kir­chen bei Stel­len­be­set­zun­gen nicht pau­schal auf ihr reli­giö­ses Selbst­be­stim­mungs­recht beru­fen kön­nen. Viel­mehr müss­ten natio­na­le Gerich­te über­prü­fen, ob die Reli­gi­ons­zu­ge­hö­rig­keit ange­sichts der Art der Tätig­keit oder der Umstän­de ihrer Aus­übung eine wesent­li­che, recht­mä­ßi­ge und gerecht­fer­tig­te beruf­li­che Anfor­de­rung dar­stellt. Es muss ein objek­ti­ver Zusam­men­hang zwi­schen Kir­chen­mit­glied­schaft und Tätig­keit bestehen. Nach die­ser EuGH-Ent­schei­dung sprach das BAG Frau Egen­ber­ger eine Ent­schä­di­gung zu.

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts: Stärkung und Konkretisierung

Gegen das Urteil des BAG leg­te die Dia­ko­nie Ver­fas­sungs­be­schwer­de ein. Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt (BVerfG) hob das Urteil des BAG mit sei­nem Beschluss vom 29. Sep­tem­ber 2025 auf und ver­wies den Fall zur erneu­ten Ver­hand­lung an das BAG zurück. Das BVerfG stell­te fest, dass das BAG dem reli­giö­sen Selbst­be­stim­mungs­recht der Kir­chen nicht in dem ver­fas­sungs­recht­lich gebo­te­nen Umfang Rech­nung getra­gen und damit die Dia­ko­nie in ihrem Grund­recht ver­letzt habe.

Die „Zweistufenprüfung“ des BVerfG

Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt kon­kre­ti­sier­te die Maß­stä­be für die Abwä­gung zwi­schen Selbst­be­stim­mungs­recht und Dis­kri­mi­nie­rungs­schutz durch eine „Zwei­stu­fen­prü­fung“:

  1. Stu­fe 1: Plau­si­ble Dar­le­gung durch die Kir­che. Der kirch­li­che Arbeit­ge­ber muss zunächst plau­si­bel dar­le­gen, dass zwi­schen der kon­kre­ten Tätig­keit und dem kirch­li­chen Auf­trag ein direk­ter Zusam­men­hang besteht. Das bedeu­tet, dass die Anfor­de­rung der Kir­chen­mit­glied­schaft für die Sicher­stel­lung der reli­giö­sen Dimen­si­on des Wir­kens und der Wah­rung der unmit­tel­ba­ren Bezie­hung der Tätig­keit zum Grund­auf­trag der Reli­gi­ons­ge­mein­schaft die­nen muss.
  2. Stu­fe 2: Ver­hält­nis­mä­ßig­keits­prü­fung durch staat­li­che Gerich­te. Die Anfor­de­rung der Kir­chen­mit­glied­schaft muss im Ver­hält­nis zur kon­kre­ten Auf­ga­be ver­hält­nis­mä­ßig sein. Hier­bei gilt der Grund­satz: Je grö­ßer die Bedeu­tung der betrof­fe­nen Posi­ti­on für die reli­giö­se Iden­ti­tät der Reli­gi­ons­ge­mein­schaft nach innen oder außen, des­to mehr Gewicht besitzt das Erfor­der­nis der Kir­chen­mit­glied­schaft. Umge­kehrt gilt: Je weni­ger Rele­vanz die jewei­li­ge Posi­ti­on für die Ver­wirk­li­chung des reli­giö­sen Ethos hat, des­to eher wird dem Dis­kri­mi­nie­rungs­schutz der Vor­zug gege­ben.

Das BVerfG beton­te, dass staat­li­che Gerich­te bei der Über­prü­fung einer Stel­len­be­set­zung nicht theo­lo­gi­sche Wer­tun­gen selbst tref­fen dür­fen, son­dern prü­fen müs­sen, ob die Umset­zung des reli­giö­sen Ethos rechts­staat­li­chen Gren­zen genügt. Es erkann­te den Vor­rang des Uni­ons­rechts an und beton­te, dass zwi­schen euro­päi­schem Dis­kri­mi­nie­rungs­schutz und dem deut­schen Ver­ständ­nis des kirch­li­chen Selbst­be­stim­mungs­rechts kei­ne unüber­wind­ba­ren Wider­sprü­che bestün­den. Viel­mehr belas­se die Gleich­be­hand­lungs­richt­li­nie den Mit­glied­staa­ten bei ihrer Durch­füh­rung Gestal­tungs­spiel­räu­me, inner­halb derer die grund­recht­li­chen Vor­ga­ben des reli­giö­sen Selbst­be­stim­mungs­rechts zur Gel­tung kom­men.

Reaktionen und Ausblick

Die Evan­ge­li­sche Kir­che in Deutsch­land (EKD) und die Dia­ko­nie begrüß­ten die Ent­schei­dung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts. Sie sehen sich in ihrer Rechts­auf­fas­sung bestä­tigt, dass Kir­che und Dia­ko­nie in begrün­de­ten Fäl­len eine Kir­chen­mit­glied­schaft vor­aus­set­zen dür­fen und dies nicht im Wider­spruch zum euro­päi­schen Anti­dis­kri­mi­nie­rungs­recht ste­he. Auch die Katho­li­sche Kir­che sieht kei­nen unmit­tel­ba­ren Hand­lungs­be­darf und betont, dass ihre vor­han­de­nen Regel­wer­ke durch die Ent­schei­dung bestä­tigt wer­den. Es wur­de bereits im Novem­ber 2022 die „Grund­ord­nung des kirch­li­chen Diens­tes“ refor­miert und die Evan­ge­li­sche Kir­che in Deutsch­land hat Anfang 2024 ihre Mit­ar­beits­richt­li­nie für Men­schen ohne Kir­chen­zu­ge­hö­rig­keit geöff­net, um die Anfor­de­run­gen tätig­keits­be­zo­ge­ner zu gestal­ten.

Für kirch­li­che Arbeit­ge­ber bedeu­tet die Ent­schei­dung des BVerfG eine Pflicht zur trans­pa­ren­te­ren Begrün­dung ihrer Ein­stel­lungs­an­for­de­run­gen. Für Bewer­ber stärkt das Urteil die Rechts­si­cher­heit im Dis­kri­mi­nie­rungs­schutz, da die Anfor­de­run­gen gericht­lich über­prüf­bar blei­ben.

Fazit

Das Egen­ber­ger-Urteil des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts stellt einen weg­wei­sen­den Beschluss im kom­ple­xen Feld des kirch­li­chen Arbeits­rechts dar. Es hat das Selbst­be­stim­mungs­recht der Kir­chen im Kon­text des Anti­dis­kri­mi­nie­rungs­rechts kon­kre­ti­siert und gestärkt, indem es eine Zwei­stu­fen­prü­fung für die Recht­fer­ti­gung von Kir­chen­mit­glied­schaft als Ein­stel­lungs­vor­aus­set­zung eta­bliert hat. Die Ent­schei­dung unter­streicht die Not­wen­dig­keit einer sorg­fäl­ti­gen Abwä­gung zwi­schen der Frei­heit der Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten, ihre reli­giö­se Iden­ti­tät zu wah­ren, und dem Schutz von Bewer­bern vor Dis­kri­mi­nie­rung. Es ist kei­ne pau­scha­le For­de­rung der Kir­chen­mit­glied­schaft erlaubt, son­dern die Rele­vanz für die kon­kre­te Tätig­keit muss plau­si­bel dar­ge­legt und ver­hält­nis­mä­ßig sein. Der Fall wird nun an das Bun­des­ar­beits­ge­richt zurück­ver­wie­sen, um die neu­en Leit­plan­ken des BVerfG bei der erneu­ten Beur­tei­lung zu berück­sich­ti­gen.

Weiterführende Quellen

https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/egenberger-bverfg-2bvr93419-diakonie-arbeitsrecht-kirchenaustritt-verfassungsbeschwerde-erfolgreich

https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2025/bvg25-096.html

https://www.katholisch.de/artikel/65187-bundesverfassungsgericht-staerkt-arbeitsrecht-der-kirchen

https://rsw.beck.de/aktuell/daily/meldung/detail/bverfg-2BvR93419-kirche-diskriminierung-religion-karlsruhe-diakonie

https://www.rechtslupe.de/arbeitsrecht/die-kirchenmitgliedschaft-als-einstellungsvoraussetzung-in-der-diakonie-3323036