Die dunkle Seite des Amazonas: VWs Rolle in Brasiliens Sklavenarbeit und Militärdiktatur

Die dunkle Seite des Amazonas: VWs Rolle in Brasiliens Sklavenarbeit und Militärdiktatur

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Die Geschich­te der bra­si­lia­ni­schen Mili­tär­dik­ta­tur (1964–1985) ist reich an dunk­len Kapi­teln, in denen nicht nur staat­li­che Akteu­re, son­dern auch inter­na­tio­na­le Unter­neh­men eine umstrit­te­ne Rol­le spiel­ten. Eine die­ser Geschich­ten, die lan­ge Zeit im Schat­ten der Ver­gan­gen­heit lag, betrifft den Auto­mo­bil­her­stel­ler Volks­wa­gen und sei­ne Toch­ter­ge­sell­schaft Volks­wa­gen do Bra­sil. Jahr­zehn­te nach den Ereig­nis­sen rückt die his­to­ri­sche Auf­ar­bei­tung der mut­maß­li­chen Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen und der moder­nen Skla­ve­rei auf einer ehe­ma­li­gen VW-Farm im Ama­zo­nas­ge­biet in den Vor­der­grund, gekrönt von einem weg­wei­sen­den Gerichts­ur­teil, das die Unter­neh­mens­ver­ant­wor­tung neu defi­niert.

Der Schatten der Fazenda Vale do Rio Cristalino

In den 1970er und 1980er Jah­ren (ins­be­son­de­re von 1974 bis 1986) betrieb Volks­wa­gen do Bra­sil, die bra­si­lia­ni­sche Toch­ter­ge­sell­schaft des deut­schen Auto­mo­bil­kon­zerns, eine Rin­der­farm im Ama­zo­nas­ge­biet, bekannt als Fazen­da Vale do Rio Cris­tali­no oder schlicht „Fazen­da Volks­wa­gen“. Die­se Farm in San­ta­na do Ara­gua­ia, im süd­li­chen Bun­des­staat Pará, war Teil einer von der dama­li­gen Mili­tär­dik­ta­tur geför­der­ten natio­na­len Stra­te­gie zur Ent­wick­lung und Besied­lung des Ama­zo­nas­ge­biets, die auch Steu­er­vor­tei­le bot. Auf einer Flä­che von rund 139.000 Hekt­ar, fast so groß wie die Metro­po­le São Pau­lo, soll­te Regen­wald gero­det und in Wei­de­land für Vieh­zucht umge­wan­delt wer­den, um Volks­wa­gen zu einem der größ­ten Rin­der­pro­du­zen­ten auf­stei­gen zu las­sen.

Systematische Ausbeutung und brutale Kontrolle

Doch hin­ter den ambi­tio­nier­ten wirt­schaft­li­chen Zie­len ver­barg sich ein Sys­tem schwers­ter Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen. Hun­der­te von Leih­ar­bei­tern, oft rekru­tiert durch soge­nann­te „Gatos“ (Sub­un­ter­neh­mer), wur­den unter Bedin­gun­gen gehal­ten, die als moder­ne Skla­ve­rei ein­zu­stu­fen sind. Die­se Arbei­ter waren vor­wie­gend Analpha­be­ten und gerie­ten durch ein Schuld­knecht­schafts­sys­tem in eine voll­stän­di­ge wirt­schaft­li­che Abhän­gig­keit. Sie muss­ten ihre Aus­rüs­tung, Ver­pfle­gung und sogar den Trans­port selbst bezah­len, was sie von Anfang an ver­schul­de­te und somit an die Farm band.

Die Lebens- und Arbeits­be­din­gun­gen waren unmensch­lich: Lan­ge Arbeits­ta­ge, erschöp­fen­de kör­per­li­che Anstren­gun­gen bei Rodungs­ar­bei­ten, man­geln­de medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung (selbst bei Krank­hei­ten wie Mala­ria) und feh­len­der Zugang zu sau­be­rem Trink­was­ser und siche­ren Lebens­mit­teln waren an der Tages­ord­nung. Bewaff­ne­te Wach­leu­te und ein pri­va­ter Sicher­heits­dienst patrouil­lier­ten auf dem Gelän­de, um die Arbei­ter am Ver­las­sen der Farm zu hin­dern. Zeu­gen und Ermitt­ler berich­te­ten von Gewalt, Schlä­gen und Miss­hand­lun­gen. Es gab sogar Berich­te, wonach flüch­ten­de Arbei­ter ange­schos­sen, ver­prü­gelt oder gefes­selt wur­den; eini­ge sol­len ihren Ver­let­zun­gen erle­gen oder ver­schwun­den sein. Ein betrof­fe­ner Arbei­ter schil­der­te 2022 der ARD, dass Auf­pas­ser flie­hen­de Kol­le­gen ange­schos­sen oder in ihren Hüt­ten ver­prü­gelt hät­ten. Die Staats­an­walt­schaft betont, dass die Ver­ant­wort­li­chen vor­sätz­lich und aus dis­kri­mi­nie­ren­den Moti­ven gehan­delt haben sol­len, um eine schwa­che sozia­le Grup­pe aus­zu­beu­ten.

Der lange Weg zur Gerechtigkeit

Die Vor­wür­fe wur­den bereits in den 1980er Jah­ren durch den Pries­ter Ricar­do Rezen­de Figuei­ra, damals Koor­di­na­tor der Land­ar­bei­ter­pas­to­ral CPT, öffent­lich gemacht und doku­men­tiert. Er sam­mel­te jah­re­lang Zeu­gen­aus­sa­gen und Bewei­se und sorg­te für eine poli­zei­li­che Unter­su­chung, die jedoch zunächst fol­gen­los blieb. Die Bra­si­li­en­in­itia­ti­ve Frei­burg e.V. trug maß­geb­lich dazu bei, das The­ma in Deutsch­land und inter­na­tio­nal bekannt zu machen.

Erst Jahr­zehn­te spä­ter, im Jahr 2019, wur­den die Ermitt­lun­gen durch das bra­si­lia­ni­sche Arbeits­mi­nis­te­ri­um (MPT) wie­der auf­ge­nom­men, nach­dem Ricar­do Rezen­de ein detail­lier­tes Dos­sier ein­ge­reicht hat­te. Eine außer­ge­richt­li­che Eini­gung schei­ter­te 2023, da Volks­wa­gen do Bra­sil die Ver­hand­lun­gen ver­ließ und erklär­te, nicht an einer Eini­gung inter­es­siert zu sein. Dar­auf­hin reich­te die Staats­an­walt­schaft im Dezem­ber 2024 eine Zivil­kla­ge gegen Volks­wa­gen do Bra­sil ein.

Das wegweisende Gerichtsurteil in Redenção Pará

Am 29. August 2025 fäll­te das Arbeits­ge­richt von Reden­ção im Bun­des­staat Pará ein his­to­ri­sches Urteil. Rich­ter Otá­vio Bru­no da Sil­va Fer­rei­ra ver­ur­teil­te Volks­wa­gen do Bra­sil zur Zah­lung einer Ent­schä­di­gung in Höhe von 165 Mil­lio­nen Reais (rund 26 Mil­lio­nen Euro) wegen der skla­ven­ähn­li­chen Arbeits­be­din­gun­gen auf der Fazen­da Vale do Rio Cris­tali­no. Dies ist die höchs­te Geld­stra­fe, die in Bra­si­li­en jemals wegen moder­ner Skla­ve­rei ver­hängt wur­de.

Zusätz­lich zur Geld­stra­fe muss Volks­wa­gen eine öffent­li­che Aner­ken­nung sei­ner Ver­ant­wor­tung aus­spre­chen und sich bei den betrof­fe­nen Arbeit­neh­mern und der bra­si­lia­ni­schen Gesell­schaft ent­schul­di­gen. Dies soll durch die Ver­öf­fent­li­chung von Anzei­gen in Zei­tun­gen sowie Radio- und Fern­seh­spots über zwei Wochen hin­weg erfol­gen. Fer­ner wur­de VW ver­pflich­tet, sich aktiv für eine Men­schen­rechts­po­li­tik ein­zu­set­zen und eine Null-Tole­ranz-Poli­tik gegen­über Skla­ven­ar­beit und Men­schen­han­del in den Lie­fer­ket­ten zu imple­men­tie­ren, sowie jähr­lich Rechen­schaft über die ergrif­fe­nen Maß­nah­men abzu­le­gen.

Volks­wa­gen do Bra­sil kün­dig­te jedoch an, Beru­fung gegen das Urteil ein­zu­le­gen. Das Unter­neh­men beton­te in einer Stel­lung­nah­me, dass es kon­se­quent an den Grund­sät­zen der Men­schen­wür­de fest­hal­te und sich strikt an alle gel­ten­den Arbeits­ge­set­ze und ‑vor­schrif­ten hal­te.

Unternehmensethik und historische Verantwortung im Kontext der Militärdiktatur

Der Fall der Fazen­da Vale do Rio Cris­tali­no ist nicht der ein­zi­ge, der Volks­wa­gens Rol­le wäh­rend der bra­si­lia­ni­schen Mili­tär­dik­ta­tur beleuch­tet. Bereits 2020 einig­te sich VW do Bra­sil in einem ande­ren Fall auf eine Zah­lung von rund 5,6 Mil­lio­nen Euro an Opfer­ver­bän­de und gemein­nüt­zi­ge Ein­rich­tun­gen. Hier ging es um die Koope­ra­ti­on mit der Mili­tär­jun­ta in den Wer­ken in São Ber­nar­do do Cam­po, wo Gewerk­schaf­ter aus­spio­niert, ver­haf­tet und der Geheim­po­li­zei über­ge­ben wur­den, was zu Fol­ter führ­te. Auch in die­sem Kon­text ver­pflich­te­te sich VW zur Auf­ar­bei­tung und Ent­schä­di­gung.

Die­se Fäl­le wer­fen grund­le­gen­de Fra­gen zur Unter­neh­mens­ethik und zur his­to­ri­schen Ver­ant­wor­tung glo­ba­ler Kon­zer­ne auf, ins­be­son­de­re wenn sie in auto­ri­tä­ren Regi­men ope­rie­ren. Die Ver­ur­tei­lung in Reden­ção sen­det ein kla­res Signal, dass Unter­neh­men für Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen in ihrer Ver­gan­gen­heit, selbst wenn sie durch Drit­te (wie Sub­un­ter­neh­mer) began­gen wur­den, zur Rechen­schaft gezo­gen wer­den kön­nen. Es unter­streicht die Not­wen­dig­keit einer umfas­sen­den Cor­po­ra­te Social Respon­si­bi­li­ty (CSR), die über Com­pli­ance hin­aus­geht und eine pro­ak­ti­ve Rol­le bei der Wah­rung der Men­schen­rech­te und der Auf­ar­bei­tung his­to­ri­scher Ver­feh­lun­gen ein­nimmt.

Fazit

Das Urteil gegen Volks­wa­gen do Bra­sil wegen moder­ner Skla­ve­rei auf der Fazen­da Vale do Rio Cris­tali­no im bra­si­lia­ni­schen Ama­zo­nas­ge­biet stellt einen Mei­len­stein in der juris­ti­schen Auf­ar­bei­tung von Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen mul­ti­na­tio­na­ler Kon­zer­ne dar. Die ver­häng­te Rekord­stra­fe von 165 Mil­lio­nen Reais und die For­de­rung nach einer öffent­li­chen Ent­schul­di­gung beto­nen die mora­li­sche und recht­li­che Ver­pflich­tung von Unter­neh­men, ihre his­to­ri­sche Rol­le kri­tisch zu beleuch­ten und Ver­ant­wor­tung zu über­neh­men. Auch wenn Volks­wa­gen do Bra­sil Beru­fung ange­kün­digt hat, zeigt der Fall, dass der jahr­zehn­te­lan­ge Kampf von Akti­vis­ten und Opfern für Gerech­tig­keit nicht ver­geb­lich war. Er setzt ein wich­ti­ges Zei­chen für die Unter­neh­mens­ver­ant­wor­tung in glo­ba­len Lie­fer­ket­ten und für die fort­lau­fen­de Not­wen­dig­keit, auch in der heu­ti­gen Zeit gegen jede Form von moder­ner Skla­ve­rei und Aus­beu­tung vor­zu­ge­hen.

Weiterführende Quellen

https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/millionenstrafe-in-brasilien-vw-menschenechtsverletzungen

https://amerika21.de/2025/06/275586/vw-angezeigt-brasilien

https://www.watson.ch/international/brasilien/362900388-wegen-sklavenarbeit-millionenstrafe-fuer-vw-in-brasilien

https://www.t‑online.de/finanzen/aktuelles/wirtschaft/id_100892762/millionenstrafe-fuer-volkswagen-wegen-sklavenarbeit-in-brasilien.html

https://www.t‑online.de/finanzen/aktuelles/wirtschaft/id_100892762/millionenstrafe-fuer-volkswagen-wegen-sklavenarbeit-in-brasilien.html