Adidas‘ Abkehr vom Tarifvertrag: Ein Bruch mit der Sozialpartnerschaft und seine Folgen

Adidas‘ Abkehr vom Tarifvertrag: Ein Bruch mit der Sozialpartnerschaft und seine Folgen

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Der Sport­ar­ti­kel­rie­se Adi­das hat eine Ent­schei­dung getrof­fen, die weit­rei­chen­de Kon­se­quen­zen für sei­ne Mit­ar­bei­ter in Deutsch­land und für das Modell der deut­schen Sozi­al­part­ner­schaft haben könn­te: Das Unter­neh­men ver­lässt zum 1. Sep­tem­ber 2025 die Tarif­bin­dung. Die­ser Schritt, kurz vor Beginn geplan­ter Tarif­ver­hand­lun­gen, hat eine Wel­le der Empö­rung bei der Indus­trie­ge­werk­schaft Berg­bau, Che­mie, Ener­gie (IGBCE) aus­ge­löst und wirft wich­ti­ge Fra­gen über die Zukunft der Arbeits­be­zie­hun­gen in Deutsch­land auf.

Adidas‘ Kurswechsel: Die Begründung des Konzerns

Adi­das begrün­det sei­nen Aus­tritt aus der Tarif­ge­mein­schaft mit dem Bun­des­ver­band der Schuh- und Leder­wa­ren­in­dus­trie (HDS/L) mit dem Wunsch nach grö­ße­rer Fle­xi­bi­li­tät bei der Ver­gü­tungs­struk­tur. Das Unter­neh­men betont, es müs­se in der Lage sein, „Gehäl­ter auch außer­halb einer Tarif­struk­tur anzu­bie­ten und allen Beschäf­tig­ten – tarif­lich und außer­ta­rif­lich – attrak­ti­ve Ent­wick­lungs­mög­lich­kei­ten zu schaf­fen“. Spe­zi­fisch ver­wei­ger­te Adi­das die For­de­run­gen der IGBCE nach einer Aus­wei­tung der Tarif­bin­dung auf mehr Ent­gelt­grup­pen, die auch Hoch­qua­li­fi­zier­te ein­schlie­ßen wür­de, sowie eine Prä­mie für Gewerk­schafts­mit­glie­der. Die­se For­de­run­gen sei­en für Adi­das „nicht ver­han­del­bar“ gewe­sen.

Laut Adi­das sind etwa 4.600 der deutsch­land­weit rund 8.000 Mit­ar­bei­ter tarif­lich beschäf­tigt. Das Unter­neh­men ver­si­chert, dass für die­se tarif­lich gebun­de­nen Mit­ar­bei­ter die in der Tarif­run­de aus­ge­han­del­ten Lohn­er­hö­hun­gen wei­ter­hin gel­ten sol­len. Doch für alle Neu­ein­stel­lun­gen ab dem 1. Sep­tem­ber 2025 gilt die Tarif­bin­dung nicht mehr. Dies mar­kiert einen ent­schei­den­den Bruch mit der bis­he­ri­gen Pra­xis.

Scharfe Kritik der IGBCE: Ein „grob unsportlicher“ Schritt

Die Reak­ti­on der IGBCE auf Adi­das‘ Ent­schei­dung war erwar­tungs­ge­mäß hef­tig. Die stell­ver­tre­ten­de Vor­sit­zen­de Bir­git Bier­mann bezeich­ne­te den Aus­tritt als „grob unsport­lich und unso­li­da­risch dem eige­nen Team gegen­über“ und einen „Schlag ins Gesicht der Beschäf­tig­ten“. Die Gewerk­schaft wirft Adi­das vor, „den Pfad von Sozi­al­part­ner­schaft und Fair­play zu ver­las­sen“. Nach Ansicht der IGBCE sind die Beschäf­tig­ten künf­tig „kom­plett dem Wil­len ihres Manage­ments aus­ge­setzt“ bezüg­lich ihrer Löh­ne und Arbeits­be­din­gun­gen.

Die Begrün­dung von Adi­das, die Gewerk­schafts­for­de­run­gen wür­den die Fle­xi­bi­li­tät ein­schrän­ken, wur­de von der IGBCE als „kom­plet­ter Unsinn“ zurück­ge­wie­sen. Die Gewerk­schaft argu­men­tiert, dass die gefor­der­te Aus­wei­tung der Ent­gelt­grup­pen gera­de für außer­ta­rif­lich Beschäf­tig­te Vor­tei­le wie gere­gel­te Arbeits­zei­ten und bezahl­te Über­stun­den gebracht hät­te. Die IGBCE betont zudem, dass Sicher­heit, Gerech­tig­keit und Ver­läss­lich­keit bei Ent­gelt, Arbeits­zei­ten und ‑bedin­gun­gen nur mit Tarif­ver­trag gewähr­leis­tet sind.

Die Deutsche Sozialpartnerschaft auf dem Prüfstand

Adi­das‘ Aus­tritt aus der Tarif­bin­dung ist mehr als nur eine unter­neh­mens­in­ter­ne Ent­schei­dung; er ist ein deut­li­ches Signal für eine Ero­si­on der Sozi­al­part­ner­schaft in Deutsch­land. Die IGBCE weist dar­auf hin, dass Adi­das nun zu einer „klei­nen Min­der­heit von Tarifflüch­ti­gen“ unter den DAX-Kon­zer­nen gehört.

Ein breiterer Trend der Tarifflucht

Der Fall Adi­das ist sym­pto­ma­tisch für einen brei­te­ren Trend in Deutsch­land. Seit Jah­ren sinkt die Tarif­bin­dung kon­ti­nu­ier­lich. Wäh­rend im Jahr 2000 noch über zwei Drit­tel (68 Pro­zent) der Beschäf­tig­ten in tarif­ge­bun­de­nen Betrie­ben arbei­te­ten, lag die­ser Anteil 2023 nur noch bei 49 Pro­zent. Das bedeu­tet, dass fast die Hälf­te der Arbeit­neh­mer in Deutsch­land ohne Tarif­ver­trag aus­kom­men muss. Die­ser Rück­gang hat weit­rei­chen­de Fol­gen: Eine Stu­die des Wirt­schafts- und Sozi­al­wis­sen­schaft­li­chen Insti­tuts (WSI) der Hans-Böck­ler-Stif­tung ergab, dass Beschäf­tig­ten ohne Tarif­ver­trag im Jah­res­ver­lauf gut eine zusätz­li­che Arbeits­wo­che leis­ten und ihnen gleich­zei­tig mehr als ein vol­les Monats­ge­halt fehlt.

Die Rolle der Tarifautonomie

Die Tarif­au­to­no­mie, ver­fas­sungs­recht­lich garan­tiert, ist ein essen­zi­el­ler Bestand­teil des demo­kra­ti­schen Sozi­al­staats Deutsch­land. Tarif­ver­trä­ge sor­gen für fai­re Ver­hält­nis­se in den Betrie­ben, garan­tie­ren die Betei­li­gung der Beschäf­tig­ten am erwirt­schaf­te­ten Wohl­stand und haben eine wich­ti­ge Ord­nungs- und Ori­en­tie­rungs­funk­ti­on. Sie bie­ten nicht nur Trans­pa­renz und Klar­heit über Arbeits­be­din­gun­gen, son­dern kön­nen auch für Arbeit­ge­ber Vor­tei­le wie die Frie­dens­pflicht bedeu­ten, solan­ge ein unge­kün­dig­ter Tarif­ver­trag gilt.

Die Euro­päi­sche Uni­on hat die Mit­glieds­staa­ten sogar ver­pflich­tet, Tarif­ver­hand­lun­gen zu för­dern und die Tarif­bin­dung zu erhö­hen, falls die­se unter 80 Pro­zent liegt. Dies unter­streicht die poli­ti­sche und gesell­schaft­li­che Rele­vanz der Tarif­bin­dung über den Ein­zel­fall Adi­das hin­aus.

Arbeitsbedingungen und Flexible Gehaltsstrukturen bei Adidas

Mit dem Aus­tritt aus der Tarif­bin­dung erhält Adi­das mehr Frei­heit bei der Gestal­tung von Löh­nen und Arbeits­be­din­gun­gen. Die vom Kon­zern ange­streb­te „Fle­xi­bi­li­tät“ könn­te bedeu­ten, dass indi­vi­du­el­le Ver­hand­lun­gen und leis­tungs­be­zo­ge­ne Ver­gü­tungs­sys­te­me eine grö­ße­re Rol­le spie­len wer­den, ins­be­son­de­re für Neu­ein­stel­lun­gen. Wäh­rend Adi­das dies als Mit­tel zur Gewin­nung und Bin­dung „der bes­ten der Bran­che“ dar­stellt, befürch­tet die Gewerk­schaft, dass dies die Arbeit­neh­mer der Will­kür des Manage­ments aus­lie­fert und zu weni­ger trans­pa­ren­ten und poten­zi­ell weni­ger vor­teil­haf­ten Arbeits­be­din­gun­gen füh­ren könn­te.

His­to­risch gese­hen wur­den in Deutsch­land auch hoch­qua­li­fi­zier­te Mit­ar­bei­ter oft durch Tarif­ver­trä­ge abge­deckt oder deren Gehäl­ter und Bedin­gun­gen ori­en­tier­ten sich stark dar­an. Die For­de­rung der IGBCE, mehr Ent­gelt­grup­pen in die Tarif­bin­dung zu brin­gen, ziel­te genau dar­auf ab, eine rea­lis­ti­sche und gerech­te Ein­grup­pie­rung auch für Hoch­qua­li­fi­zier­te zu schaf­fen. Adi­das‘ Ableh­nung die­ser For­de­rung und der gleich­zei­ti­ge Aus­tritt aus der Tarif­bin­dung deu­ten auf eine prä­fe­ren­zi­el­le Neu­aus­rich­tung hin, die auf stär­ker indi­vi­dua­li­sier­te Gehalts­struk­tu­ren außer­halb des kol­lek­ti­ven Rah­mens abzielt.

Der Arbeitsmarkt in Herzogenaurach: Ein Mikrokosmos des Wandels

Her­zo­gen­au­rach, der Haupt­sitz von Adi­das, ist stark vom Sport­ar­ti­kel­her­stel­ler geprägt. Rund 3.500 der deutsch­land­weit 8.000 Adi­das-Mit­ar­bei­ter sind in der Zen­tra­le in Her­zo­gen­au­rach beschäf­tigt. Ins­ge­samt beschäf­tigt Adi­das welt­weit 62.035 Mit­ar­bei­ter (Stand 2024), davon etwa 5.800 in Her­zo­gen­au­rach.

Die Ent­schei­dung zum Aus­tritt aus der Tarif­bin­dung kommt zudem zu einer Zeit, in der Adi­das bereits struk­tu­rel­le Ver­än­de­run­gen und poten­zi­el­le Stel­len­strei­chun­gen in Her­zo­gen­au­rach plant. Medi­en­be­rich­ten zufol­ge könn­ten bis zu 500 Arbeits­plät­ze in der Zen­tra­le abge­baut wer­den, um die „Kom­ple­xi­tät zu redu­zie­ren“, obwohl das Unter­neh­men ein erfolg­rei­ches Geschäfts­jahr 2024 ver­zeich­ne­te. Die­se Ent­wick­lun­gen – der Aus­tritt aus der Tarif­bin­dung und poten­zi­el­le Stel­len­kür­zun­gen – schaf­fen eine Atmo­sphä­re der Unsi­cher­heit für die Beleg­schaft in der Regi­on. Sie zei­gen, wie glo­ba­le Unter­neh­mens­stra­te­gien sich direkt auf loka­le Arbeits­märk­te und die Lebens­be­din­gun­gen von Tau­sen­den von Men­schen aus­wir­ken kön­nen.

Fazit

Adi­das‘ Aus­tritt aus der Tarif­bin­dung ist ein signi­fi­kan­ter Bruch mit der Tra­di­ti­on der deut­schen Sozi­al­part­ner­schaft und ein kla­res Zei­chen für den anhal­ten­den Trend der Tarif­flucht in der deut­schen Wirt­schaft. Wäh­rend das Unter­neh­men Fle­xi­bi­li­tät und attrak­ti­ve Ent­wick­lungs­mög­lich­kei­ten für sei­ne Mit­ar­bei­ter als Begrün­dung anführt, sieht die IGBCE dar­in einen „unsport­li­chen“ Angriff auf die Arbeit­neh­mer­rech­te und eine Gefähr­dung der kol­lek­ti­ven Sicher­hei­ten bei Löh­nen und Arbeits­be­din­gun­gen.

Die­ser Fall beleuch­tet die span­nungs­rei­che Bezie­hung zwi­schen unter­neh­me­ri­scher Fle­xi­bi­li­täts­for­de­rung und der Bedeu­tung von Tarif­ver­trä­gen für die Siche­rung fai­rer und ver­läss­li­cher Arbeits­be­din­gun­gen. Er macht deut­lich, dass die Debat­te um die Zukunft der Tarif­ver­trä­ge und die Stär­kung der Tarif­bin­dung in Deutsch­land ange­sichts sin­ken­der Quo­ten und dem Druck durch glo­ba­le Wett­be­werbs­be­din­gun­gen wei­ter­hin eine zen­tra­le Rol­le in der Arbeits­welt spie­len wird. Für die Mit­ar­bei­ter von Adi­das, ins­be­son­de­re zukünf­ti­ge Neu­ein­stel­lun­gen, bedeu­tet dies eine Ver­än­de­rung der Spiel­re­geln, die lang­fris­ti­ge Aus­wir­kun­gen auf ihre Arbeits­be­din­gun­gen haben könn­te.

Wei­ter­füh­ren­de Quel­len
https://www.br.de/nachrichten/wirtschaft/adidas-verlaesst-die-tarifbindung-kritik-von-gewerkschaft,UtBwPAT

https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/adidas-ausstieg-tarifvertrag-mitarbeiter-herzogenaurach-li.3295187?reduced=true

https://www.textilwirtschaft.de/business/news/sportartikelkonzern-adidas-verlaesst-tarifbindung-kritik-der-gewerkschaft-251676